Der Guru

Die spirituelle Welt ist weit größer und komplexer als die uns bekannte materielle Welt und beide sind aufs innigste miteinander verwoben.

Wer sich auf die spirituelle Suche begibt, wer sein Wesen ganz entfalten möchte, glaubt im Allgemeinen, die in ihm wohnende Spiritualität werde ihn auf den richtigen Weg führen. Man brauche nur auf die eigene innere Stimme zu hören. Das mag wohl stimmen, aber meist sind wir nicht darin geübt, die Tiefen des Bewusstseins wahrzunehmen und auf die innere Stimme zu hören. So suchen wir nach Lehrern, die uns auf dem Wege helfen können.

Head-shot of Eckhart Tolle from directly in front by Kyle Hoobin
Eckhart Tolle
(* 16. Februar 1948 in Lünen als Ulrich Tolle)

Die Bücher des kanadischen Ethnologen Eckehard Tolle geben entscheidende Hinweise, wie der Suchende vorgehen könne. Das größte Hindernis auf seinem Weg der psycho-spirituellen Entwicklung ist nach Auffassung aller östlichen Lehrer das Ego, welches Tolle in seiner Funktion analysiert und präzise beschreibt. Zur Entfaltung der innewohnenden Spiritualität müsse man lernen, auf seine Intuition zu hören und jeden Augenblick des Hier und Jetzt bewusst zu gestalten. Hierzu brauche man keinen Guru, allein die eigene Intuition gebe den richtigen Weg vor.

Friedrich Nietzsche, 1875
Friedrich Nietzsche
(* 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen; † 25. August 1900 in Weimar)

Nietzsche beschreibt in seiner Theorie vom Übermenschen, wie der Einzelne durch stetiges Bemühen über seine jeweilige Entwicklungsstufe hinaus schreiten könne und so seine verborgenen Fähigkeiten in ungeahnte Höhen hinein entfalten könne. Er gibt allerdings keine praktikable Methode an, wie dieses Ziel zu erreichen sei.

Der russische spirituelle Lehrer Gurdjew, dessen Lehren von seinem Schüler Ouspensky in einem großen Werk veröffentlicht wurden, zeigt den Menschen, wie sie durch enorme Steigerung der Aufmerksamkeit und durch äußerst verantwortungsvollen Umgang mit den Dingen in der Zeit in den Bereich der Spiritualität eintreten können. Das Buch mit dem Titel „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ kann vom Suchenden nur jeweils so weit gelesen werden, wie die darin beschriebenen Entwicklungsschritte real vollzogen wurden.

Georg Iwanowitsch Gurdjieff (1866-1949)
Georgij Ivanovič Gjurdžiev
(vermutlich * 1866 in Alexandropol; † 29. Oktober 1949 in Paris)

Es zeigt sich, dass westliche Lehrer meist auf die Methoden des Ostens zurückgreifen. Auch wenn sie selbst respektvoll wie Gurus verehrt werden, halten sie doch die Rolle des Gurus für nicht erforderlich. Diese Auffassung gehört zu den allgemeinen Glaubenssätzen einer gebildeten und freiheitsliebenden Schicht in Deutschland. Dies hat auch etwas mit unserer speziellen jüngeren Geschichte zu tun, in der die Rolle einer geistigen Führung negativ besetzt wurde.

Es ist richtig, dass wir alle die Fähigkeit zur Erleuchtung in uns tragen, wie wäre es sonst möglich, sie dereinst zu erlangen. Aber dazwischen stehen unsere Selbstsucht, die Leidenschaften, Irrtümer, falsche Glaubenssätze, auferlegte Dogmen, die falsche Art mit unserem Körper und unserem Geist umzugehen und vieles mehr. Uns über diese Vielzahl von Hürden zu helfen, wenn sie sich in unseren Weg stellen, das ist die Arbeit des Gurus. Guru bedeutet, der, der das Licht ins Dunkle bringt. 

Wenn man eine Hürde genommen hat, sieht man, dass es eigentlich einfach war, man hat sie aber ohne Hilfe nicht nehmen könnten. Wenn der Schüler verzagt, in Gefahr ist, ein schier unlösbares Problem hat, dann ist der Guru zur Stelle. Das kosmische Bewusstsein hat von der Geburt an ein Auge auf jedes Wesen. In der Repräsentierung im spirituellen Meister genießt der Schüler, der sich einer spirituellen Disziplin unterzieht, eine besondere Fürsorge. Hier zeigt sich eine Erfahrung derer, die auf dem spirituellen Pfad sind, dass, wenn wir einen Schritt auf das kosmische Bewusstsein zugehen, es hundert Schritte auf uns zugeht. Unser erster Schritt ist die Disziplin in unseren spirituellen Übungen.

P.R. Sarkar (1921 - 1990)
Prabhat Ranjan Sarkar, Guru von Ananda Marga
(* 21. Mai 1921 in Jamalpur, Bihar, Indien; † 21. Oktober 1990 in Kolkata, Westbengalen)

Wenn man es nicht erlebt hat, kann man es sich vielleicht nicht vorstellen. Der Guru bringt in einer begrenzten Zeit einer begrenzten Anzahl von Schülern seine Lehre nahe. Er hat den Weg von Relativen zum Absoluten bereits begangen und kann ihn zu jeder beliebigen Zeit gehen. Das hat er anderen voraus. Der Zweck seines Lebens ist allein der Dienst an denen, die bereit sind, diesen Weg zu gehen. Durch seine Fähigkeit, den absoluten Bereich zu betreten, verlässt er mit einem bestimmten Teil seiner Identität die Bindungen von Raum und Zeit. So kann er sich um das Wohlergehen und den Fortschritt seiner Schüler kümmern, ohne am Ort oder in der Zeit zu sein. Das ist das Wunderbare, das jeder Praktizierende erfährt, und das eine tiefe innere Ruhe schenkt. P.R. Sarkar, den wir Anandamurti nennen, ist der Guru von Ananda Marga. Er hat immer betont, dass er nur eine Brücke zum Absoluten, eine von dessen vielen Verkörperungen ist, die wir begehen können, weil wir ebenfalls die Verkörperung des allwaltenden kosmischen Prinzips sind. Seine bürgerliche Identität ist nur eine Form, in der jener Inhalt, den wir alle in uns entfalten wollen, erblüht ist. Insofern ist er Vorbild und Helfer, Wegbegleiter und Fürsorger! Eigentlich unglaublich und großartig! Gerade weil derartige  Beispiele dafür bei uns im Westen tief in der Geschichte vergraben liegen, und unsere jüngere Geschichte das Prinzip der Führung so sehr in Misskredit gebracht hat, mag man dergleichen kaum glauben. Wenn man ein lebendiger Mensch ist und darüber etwas erfahren will, gibt es nur eine Weg: man probiere und staune!